Dienstag, 28. September 2010

Was er zurückließ: einen 1905-seitigen Abschiedsbrief

Mitchell Heisman
Autor beschrieb nihilistischen Ausblick
(Artikel vom 27.09.2010 im Boston Globe von David Abel, aus dem Englischen)


Am Ende weiss niemand, was Mitchell Heisman, einen gebildeten, verschrobenen, gutaussehenden 35-jähriger Mann bewegt hat, am heiligsten Tag seines Glaubens das Gelände der Harvard-Universität zu betreten und auf der obersten Stufe der Memorial Church, wo gerade hunderte zusammenkamen um den jüdischen Versöhnungstag zu begehen, einen Schuss aus einem silbernen Revolver in seine rechte Schläfe abzufeuern.

Aber wenn man dem 1905-seitigen Abschiedsbrief Glauben schenken darf, einem Werk, an dem er fünf Jahre arbeitete und welches seine Familie und andere in einer posthumen E-Mail nach seinem Selbstmord letzten Sonnabend Morgen am Jom Kippur erhielten, nahm sich Heisman das Leben als Teil einer philosophischen Untersuchung, die er selbst „ein Experiment im Nihilismus“ nannte.

Am Ende seines Briefes, einem komprimierten, wissenschaftlichen Werk mit 1433 Fußnoten, einer 20-seitigen Bibliografie und mehr als 1700 Bezügen zu Gott und 200 Bezügen zum deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche, fasst Heismann sein Experiment wie folgt zusammen:
“Jedes Wort, jeder Gedanke, und jedes Gefühl deuten auf ein grundlegendes Problem: Das Leben ist bedeutungslos.„, schrieb er.  „Das Experiment im Nihilismus besteht darin, jedes Trugbild und jeden Mythos aufzuspüren und aufzudecken, wohin auch immer dies führen und gleich was geschehen mag, sogar, wenn es uns tötet.“

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Über die Jahre versank er mehr und mehr in seiner Arbeit und arbeitete oftmals mehr als 12 Stunden am Tag.  Heisman teilte kleine Auszüge mit Freunden und Familienangehörigen ohne jedoch ins Detail zu gehen, was das Ausmaß seines Nihilismus – seiner verhärteten Überzeugung, das Leben sei schal und unsinnig, dass Werte reine Täuschungen seien, dass der „irrationale Glaube an die Richtigkeit des Lebens, statt der des Todes, einer Gottes- oder Massenwahnvorstellung gleichkommt“ betraf.

Er erzählte ihnen, er arbeite an einer Geschichte der Eroberung Englands durch die Normannen, zurückgezogen in einer beengten mitgenutzten Wohnung in Somerville. Sie wussten, dass der glattrasierte junge Mann aus dem vorstädtischen New Jersey, der stets seine betagte Großmutter an ihrem Geburtstag anrief und einmal 200 Dollar an Harvard Hillel spendete, um Gottesdienste in der Memorial Church zu fördern, mit seiner Arbeit sehr verbunden war.

Weder seine Mutter, noch seine Schwester und Mitbewohner, von denen er Vergebung erbat, Stunden bevor er starb, hatten eine Ahnung, dass er sich umbringen würde.  Sie und andere suchen nach Antworten, warum er es tat, in dieser öffentlichen Art und Weise, an diesem heiligen Tag.

“Er war sehr aufrichtig, sehr charmant, man hätten nie geahnt, das irgendetwas nicht stimmte,”, sagt Lonni Heisman, seine Mutter.  Er sagte ihr oft, dass er sie liebe und besuchte sie kürzlich um ihr bei den Vorbereitungen für einen Umzug zu helfen.  „Ich bin noch im Schock und ich kann nicht verstehen, wie er dies verbergen konnte.“, sagt sie. „Für ihn lief alles gut.  Er war bei bester Gesundheit.  Er war gutaussehend, klug, ein guter Mensch. Ich werde es nie verstehen.”

Sie berichtet, er sei ein geselliges Kind gewesen, das sich nach dem Tod seines Vaters, einem Ingenieur, der an einem Herzinfarkt verstarb als Mitchell 12 Jahre alt war, zunehmend abkapselte.  Als er heranwuchs wurde er immer mehr zu einem Bücherwurm, begann Psychologie an der Universität von Albany in New York zu studieren, wo er zurückhaltend gegenüber Freunden auftrat und viel Zeit mit Lesen verbrachte.

The Strand
Nach dem College arbeitete Heisman in Buchläden, so auch im The Strand in Manhattan, was ihn in die Lage versetzte eine Bibliothek von tausenden Büchern zusammenzutragen.  Ungefähr vor fünf Jahren zog er nach Somerville, um sich auf das Schreiben zu konzentrieren und in der Nähe großer Universitätsbibliotheken zu sein.

Er führte einen spartanischen Lebensstil, lebte von Mikrowellengerichten, Hühnchenflügeln und Energieriegeln und größtenteils von Geld, welches ihm sein Vater nach dessen Tod hinterließ.  Er war groß mit dunklen Augen und ging mit Frauen aus, wenn er eine Pause von seiner Einsamkeit suchte, wobei er selten Probleme hatte, die Aufmerksamkeit einer Frau auf sich zu ziehen. Jedoch beendete er Beziehung schnell und begründete dies damit zu beschäftigt mit dem Schreiben eines Buches zu sein.

Heisman, hörte oft Bachs wohltemperiertes Klavier in Endlosschleife, was ihm half sich zu  konzentrieren und was, wie er fühlte, die beiden miteinander wetteifernden Spannungen von Emotion und Logik verband.  Er ging täglich ins Fitnessstudio und nahm Ritalin, welches, nach Ansicht seiner Mutter, eine Depression verursacht haben könnte und zu seinem Selbstmord führte.

Einer seiner langjährigen Mitbewohner, David Barnes, beschreibt Heisman als ruhig und besonnen, niemals ungehalten.  Er beteiligte sich an Unterhaltungen durch das Stellen von Fragen.  Wenn er sprach, gab er oft wohldurchdachte lange Antworten,  „Er konnte anstrengend sein, wenn er über sein Buch redete.“, sagt Barnes. „In seinem Projekt stauten sich auf jedem Fall viele Emotionen an“.


Barnes und Angehörige berichten, Heisman kaufte die Waffe, eine Pistole im Kaliber .38, vor drei Jahren, jedoch wissen sie nicht wo.  Sie glauben, dass die Waffe nur einem Zweck dienen sollte: Selbstmord zu begehen, sobald er das Buch vollendet hätte.
“Er begab sich nie in Gefahr. Er war nicht paranoid, er machte sich keine Sorgen, dass jemand ihn verletzen oder einbrechen könnte.“, sagt Barnes. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er die Waffe aus irgendeinem anderen Grund gekauft hätte.“

Vor einem Monat, als er begann seine Arbeit zu beenden, fragte er Barnes, ob er als Zeuge bei der Verfassung seines Testamentes dabei sein könnte. Barnes sah den Grund dafür in der Bedeutung des Buches  und dass er sicherstellen wollte, man würde sich darum kümmern, falls ihm etwas zustossen sollte.

Zwei Tage vor seinem Selbstmord schien Heisman freudig erregt zu sein.  Er sagte seinen Mitbewohnern er hätte das Buch vollendet.  Er verbrachte die nächsten Tage auf dem Postamt, kaufte Briefmarken und bereitete Päckchen mit dem Buch auf CD für Freunde und die Familie vor.

Am Morgen des Jom Kippur, duschte Heisman, rasierte sich und aß gebratene Hühnerbruststreifen und Linsen zum Frühstück, wovon er einiges auf dem Küchentisch stehen lies, was er nur selten tat.   Er zog ein weißen Anzug, weiße Schuhe und eine weiße Krawatte sowie weiße Socken an und zog sich einen schlechtsitzenden Trenchcoat über, wohlmöglich um die Waffe zu verbergen.

Harvard Memorial Church
Um ca. 10 Uhr morgens, eine halbe Stunde vor seinem Selbstmord vor einer Gruppe, die gerade Harvard besuchte, ging Heisman in Barnes Zimmer.  Er sagte ihm die weißen Sachen seien eine jüdische Tradition, obwohl er nur selten seine Religion praktizierte und ein Gotteskonzept aufgegeben hatte.  Anscheinend in freudiger Stimmung, erläuterte er die Bedeutung von Jom Kippur.

“Er sagte mir, er wolle, dass ich wüsste, wenn er jemals etwas getan hätte, was mich gekränkt haben sollte, er sich dafür entschuldigen würde und hoffe ich würde ihm verzeihen.“, sagt Barnes

In seinem Buch, das er „Abschiedsbrief“ betitelte und dessen Versand als E-Mail Anhang an hunderte Menschen ca. fünf Stunden nach seinem Tod programmiert war, erarbeitete er eine außergewöhnlich lange Abhandlung warum das Leben nicht lebenswert sei.

Mit Kapitelüberschriften wie “Philosophie, Kosmologie, Singularität, New Jersey” und “Wie man einen Gott erzeugt”  und Zitaten von über einhundert Autoren, angefangen vom Futuristen Ray Kurzweil bis zum Biologen E. O.Wilson, erklärt Heisman wie seine Ansichten Form annahmen.

“Der Tod meines Vaters stellt den Beginn oder vielleicht die Beschleunigung einer Art moralischen Zusammenbruches dar, da die vollständige Verkörperung der Welt von Materie über den Menschen bis zur eigentlichen subjektiven Erfahrung Hand in Hand ging mit einer nihilistischen Unfähigkeit am Wert eines jeglichen Zieles zu glauben,“ schrieb er.

Er begriff seine Gefühle als nichts weiter als ein biologisches Ergebnis, so seelenlos wie die Tätigkeiten einer Maschine, und daher, ihrem Wesen nach, eine Illusion.

“Wenn das Leben wirklich bedeutungslos ist und es keine rationale Grundlage für ein Wahl zwischen fundamentalen Alternativen gibt, dann sind alle Wahlmöglichkeiten einander ebenbürtig und es gibt keinen wesentlichen Grund das Leben dem Tod vorzuziehen.“, folgerte er.

Die Dunkelheit seiner Ansichten ist zu viel für seine Freunde und Familie, von denen viele seinen Abschiedsbrief noch nicht gelesen haben.

“Es macht mich sehr traurig und wütend das, dass er keiner anderen Facette des Lebens zugetan war, als der seines Buches, sagte Barnes.

website suicide note
Seine Schwester, Laurel Heisman, die die letzten Wochen damit verbrachte durch seine verbliebenen Sachen zu gehen - einem Poster auf deutsch, ein gemachtes Bett, Stapel von Büchern in einem kleinen Zimmer verhangen mit dunklen Vorhängen - sie sagt, sie hätte eine einzelne posthume Nachricht von ihm erhalten, in der er sie bat die Webseite, die er erstellt hatte um sein Buch zu veröffentlichen, zu erhalten. Eine Last, die sie bereit ist zu tragen.

“Ich liebe Dich.”, schrieb er ihr.

Sie wünscht sich, sie hätte ihm die schönen Seiten des Lebens bewusst machen können und dass wir dem Leben unsere eigenen Wertvorstellungen und eigene Bedeutung geben. Sie hätte ihn hinauf auf einen Berg nehmen oder ihn ganz nah halten sollen.

“Er sagte uns lediglich die unverfänglichen Sachen, weil er wusste, dass wir versucht hätten ihn aufzuhalten.”,  sagt sie.  „Es ist sehr schwer. Es ist nicht, als werde jemand depressiv, weil er einen Partner verlor.  Seine ganze Weltanschauung war von der Idee des Nihilismus bestimmt.”


(übersetzt aus dem Englischen von Benjamin Tittmann)

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